Zarte Frau, schonungslos: Daniela Krien liest zur Buchmesse aus „Muldental“

Daniela Krien liest. Foto Detlef M. Plaisier

Daniela Krien liest. Fotos (2): Detlef M. Plaisier

Dass Holger Mann die Moderation zur Lesung von Daniela Krien übernommen hatte, war ein kluger Schachzug. Die zehn Geschichten aus dem Erzählband „Muldental“ lassen sich nicht isoliert von der politischen und wirtschaftlichen Realität im Deutschland der (Nach-)Wendezeit lesen.

Daniela Krien liest „Freiheit“ und „Sommertag“  zwei Titel, die doch eher Hoffnung schöpfen lassen. Doch es offenbaren sich menschliche Abgründe, Auswüchse des rechtlich so genannten Beitritts von Hoffen und Scheitern bis zu persönlicher Verzweiflung ohne Ausweg. Es sind Texte, die zur Lektüre vor dem Einschlafen nicht taugen. „Ich freue mich, wenn die Geschichte stark auf den Leser wirkt“, sagt Daniela Krien. „Doch beim Schreibprozess ist das noch nicht beabsichtigt.“

Die Figuren ihrer Geschichten (oder sind es Miniaturen? Gar Gesellschaftsspitzen?) sind zum Teil angelehnt an real existierende Menschen, entstammen aber nicht der eigenen Biografie. So ist der arbeitslose und alkoholabhängige Otto aus „Sommertag“, der nach seinem Scheitern den Freitod wählt, aus einer eher beiläufigen Bemerkung bei einer Krien’schen Familienfeier heraus angelegt worden. „Da horche ich auf, mache mir Notizen, und irgendwann wird es verwendet.“ Der Kniff: Daniela Krien recherchiert nicht akribisch nach („ich bin schließlich keine Journalistin“), sondern ist bestrebt, direkt ins Literarische zu gelangen. Das Thema Spätabtreibung („Freiheit“) hat Daniela Krien besonders beschäftigt. „Ich hatte das zuvor gar nicht für möglich gehalten“, zeigt sie sich immer noch betroffen.

Lesung Daniela Krien #lbm16 19.03.2016. Foto Detlef M. Plaisier (13)An einem Leseabend während der Buchmesse drängt sich der Blick auf die Ergebnisse der jüngsten Landtagswahlen auf. Daniela Krien lässt sich bereitwillig darauf ein. Nicht alle seien nach der Wende angekommen. Bis zu zwanzig Prozent der Bevölkerung hätten sich inzwischen aus der Zivilgesellschaft verabschiedet, müssten sich von Politikern als „Pack“ beschimpfen lassen. Und ja, ihre Figur Otto könnte durchaus zu einem der PEGIDA-Spaziergänger oder AfD-Wähler geworden sein. „Ich lege meine Figuren nicht politisch an, aber einige rücken in diese Nähe.“

Holger Mann gibt einen Leseeindruck wieder, den ich teile: Daniela Krien setzt ihre Figuren nicht nur dem Mitleid der Leser aus. Sie reicht auch die Hand zur Versöhnung.

Danke für einen beeindruckenden Leseabend  abseits lauter Buchmessetöne.

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Rezension: Thomas Brussig, Das gibts in keinem Russenfilm

Thomas Brussig, 1964 in (Ost)-Berlin geboren, arbeitet als Schriftsteller und Drehbuchautor. Er studierte nach Abbruch seines Soziologiestudiums an der Filmhochschule „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg. Mit seinen Büchern „Helden wie wir“ und „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ (beide verfilmt) erlangte er große Bekanntheit.

Wenn die Mauer nicht gefallen wäre…
Als Thomas Brussig im Mai dieses Jahres anlässlich des Tübinger Bücherfestes in einem lauschigen Hof aus seinem neuen Buch mit dem sensationellen Titel „Das gibts in keinem Russenfilm“ las, wusste ich: Dieses Buch muss ich haben! (Dass höchstens ehemalige DDR-Bürger den Titel verstanden, war sowohl mir als auch ihm klar.) Der Protagonist in dieser kontrafaktischen Biografie ist der Autor selbst und er heißt auch so. Die Jahre bis zur „Wende“ dürften seinem eigenen Werdegang entsprechen. Auf selbstironische Weise erzählt Brussig von Armee-Erlebnissen, Liebesabenteuern und dem ganz normalen Alltagswahnsinn in der DDR. Er lässt bekannte Politiker und Künstler auftreten, von denen man allerdings nicht weiß, ob sie tatsächlich in der geschilderten Weise im Leben des Autors eine Rolle gespielt haben.

Die Wende findet nicht statt
Von den Ereignissen nach 1989 scheinen mir keineswegs alle erfunden zu sein. Das Leben von Thomas Brussig geht weiter, er schreibt an verschiedenen Romanen und die DDR versucht, ihren Devisenmangel mit dem Bedürfnis der Eingesperrten nach Westreisen zu verknüpfen, sozusagen eine Win-Win-Situation herzustellen. Es werden diverse „Erfindungen“ gemacht, angefangen von hölzernen Windkraftanlagen bis hin zu neuartigen Stromzapfanlagen für Elektroautos. Wobei zu bemerken wäre, dass an keiner Stelle die naheliegende Frage auftaucht, wie es mit der Akzeptanz und der Vereinbarkeit der Abholzung der Wälder mit Umweltschutz und Nachhaltigkeit steht.

Von der Stasi ist nicht mehr oft die Rede, Versorgungsengpässe scheint es auch nicht mehr zu geben. Man vergisstals Leser schnell, dass es in der Phantasie des Autors immer noch zwei deutsche Staaten gibt. So geht leider auch das eigentlich interessante Gedankenspiel (das auch andere Autoren bereits zur Grundlage ihrer Romane machten) unter, gerade so, als wüsste der Autor nicht, wie er es mit Leben füllen sollte. Erst am Ende, als sich Brussig über das Buch eines westdeutschen Jungautoren aufregt, der die friedliche Revolution als Fiktion in seinem Roman schildert, kriegt er noch einmal die Kurve und der Kreis schließt sich.

Probleme mit der Form
An die konsequente Einhaltung der „alten“ Rechtschreibung habe ich mich noch gewöhnen können, nicht jedoch an den vollständigen Verzicht des Plusquamperfektes, da wo die Vorvergangenheit erzählt wird, sowie an den oft schmerzlich vermissten Gebrauch des Konjunktivs.

Mein Fazit
Ein unbedingt empfehlenswertes, weil originelles Buch, das mit selbstironischem Augenzwinkern erzählt, was war und was hätte sein können, getragen von großer Fabulierkunst. Besonders interessant dürfte es für all jene sein, die einen Teil ihres Lebens in der DDR zugebracht haben. Wer selbst schreibt, kann anschaulich verfolgen, welche Kämpfe der Autor beim Entstehen der jeweiligen Romane ausgefochten hat.

Thomas Brussig, Das gibts in keinem Russenfilm
S. Fischer, Frankfurt a.M., 2015
Online bestellen: https://www.buchhandel.de/buch/Das-gibts-in-keinem-Russenfilm-9783100022981
Autorin der Rezension: Cornelia Lotter
www.autorin-cornelia-lotter.de

Unter dem Machandelboom: Autorin Regina Scheer begeistert bei Lehmanns

Nur selten erinnere ich mich an meine Träume der Nacht, und nur selten träume ich vom Inhalt eines Buches. Autorin Regina Scheer hat es mit ihrem Erstlingsroman „Machandel“ vermocht. Zugegeben, die Vorzeichen standen günstig:  Die Fehndörfer in meiner Herzheimat Ostfriesland ähneln dem fiktiven Dorf Machandel in Mecklenburg, ich vermag Sprache und Menschenschlag nachzufühlen. Über manche Dinge redet man nicht. Dieses Schweigen ist schwerer zu erlernen als die Sprache. Und es ist dort wie hier: „Glück? Solch große Worte haben wir hier oben nicht für das Leben.“

Regina Scheer bei Lehmanns. Foto Detlef M. Plaisier

Foto: Detlef M. Plaisier

Familienroman? Generationenroman? Ein politischer Roman gar? Von jedem etwas. Regina Scheer wollte vorrangig nur eines: Erinnerungssplitter einsammeln, bewahren und Geschichte durch Geschichten erzählen. Dafür setzt sie fünf Personen ein mit ihren so unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Perspektiven. Dem Leser obliegt es, sein Bild daraus zusammenzusetzen. Was mich beeindruckt: Auf immerhin knapp 500 Seiten erlebe ich deutsche Geschichte in einer Spanne von sechzig Jahren, und die ist ganz natürlich mit den Lebensläufen der Protagonisten verwoben; ein Wechselgesang mit Aufstieg und Fall, Hoffnung und Enttäuschung, Geburt und Ehebruch, aber ganz ohne dräuenden Zeigefinger und Triumphgeheul des vermeintlich besseren politischen Systems. „Machandel“ grenzt sich deutlich und bewusst von Geschichtsschreibung ab.

Auch Zeitgeschichte lässt sich erzählen, meint Regina Scheer: „Es gibt keinen objektiven Blick auf Ereignisse. Menschen, die erzählen, interpretieren auch.“ Ihren Schritt von der Kulturwissenschaftlerin und Historikerin hin zur Belletristik empfinde sie nicht als großartige Sache: „Die Form folgt beim Schreiben dem, was erzählt werden muss. Dieser Unterschied wird nur in Deutschland so wahrgenommen. Die Franzosen sehen das als ganz natürlich an.“ Ja, es sei durchaus angenehm gewesen, Biografien von Personen frei zu gestalten. Mit fortschreitender Handlung entwickelten diese dann ein Eigenleben, und so seien einem Akteur, der sie zu Beginn noch mit Wut erfüllt habe, nach und nach Stärke und Würde zugewachsen. Im übrigen bestreitet Regina Scheer vehement, dass die dominant-sensible Clara in Machandel ihr Alter Ego sei, wie Leser und Kritik oft vermuteten. „In anderen Figuren ist viel mehr drin, mit dem ich mich identifiziere.“

Und jetzt? Das bleibt offen: „Ich hab schon noch Ideen für Romane.“

Regina Scheer wurde am Tag der Lesung  der mit 15.000 Euro dotierte „Mara-Cassens-Preis für den ersten Roman“ des Literaturhauses Hamburg zuerkannt. Die Auszeichnung wird bereits seit 1970 verliehen und ist der höchstdotierte Preis für einen deutschsprachigen Debütroman. Er ist der einzige Literaturpreis, der von einer Leserjury vergeben wird. Die Dotierung soll es Autorinnen und Autoren ermöglichen, „sich für eine gewisse Zeit ganz dem Schreiben zu widmen“. 

Eine Rezension zu „Machandel“ erfolgt in Kürze an dieser Stelle. Das Buch ist inzwischen in die dritte Auflage gestartet.